03 - Am Zoll Lörrach / Riehen

Vom Strassenraum zum Lebensraum
Durchgangsverkehr passiert eine überdimensionierte Strasse, gesäumt von Freiräumen und Bauten. Dieses bekannte Bild von Städten wird noch verschärft durch die Landesgrenze zwischen Deutschland und der Schweiz sowie den damit einhergehenden Infrastrukturen. Die Schweizer Tramlinie wendet an der Grenze, inmitten eines funktional eng verflochtenen Raums. Strassen und Bahntrassen lassen sich schlecht queren. Diesem städtebaulichen Manko will das IBA Projekt Am Zoll Lörrach / Riehen mit gezielten Transformationen begegnen.

Der geplante Ausbau der Wiesentalbahn war Impulsgeber für das IBA Projekt Am Zoll Lörrach / Riehen. Das Verkehrsprojekt sollte den Takt für die wachsende Zahl von Berufspendler*innen auf 15 Minuten erhöhen. Hierfür ist unter anderem im Bereich der Landesgrenze der Ausbau der eingleisigen Strecke auf zwei Gleise notwendig. Daraus entwickelte sich der Gedanke, aus dieser ohnehin notwendigen Baumassnahme heraus einen zusätzlichen Haltepunkt der S-Bahn «Am Zollweg» an der Grenze zu schaffen, der aufgrund seiner Position in der Lage wäre, als «grenzüberschreitende Mobilitätsdrehscheibe » die unterschiedlichen Verkehrsmittel wie S-Bahn, Bus und Tram besser miteinander zu verknüpfen. Gleichzeitig würde eine solche Mobilitätsdrehscheibe einen neuen zentralen Punkt in einem grenzüberschreitenden Quartier bilden, der Nachverdichtungspotenziale und Anlass für freiraumplanerische Aufwertung schafft.

Konzeptwandel – Mobilitätsdrehscheibe zu grenzüberschreitendem Lebensraum

Verschiedene verkehrsplanerische Studien sowie ein gemeinsam von der Stadt Lörrach (DE), der Gemeinde Riehen (CH) und dem Kanton Basel-Stadt initiierter städtebaulicher Ideenwettbewerb in 2016 skizzierten Überlegungen zur Neugestaltung dieses grenzüberschreitenden Stadtraums. In diesem Zuge erfolgte 2016 auch die Eingabe des IBA Projekts Am Zoll Lörrach / Riehen beim Agglomerationsprogramm zur Finanzierung der Mobilitätsdrehscheibe sowie 2017 die Aufnahme in das bundesdeutsche Förderprogramm «Nationale Projekte des Städtebaus ». Der Ideenwettbewerb offenbarte auch die städte- und freiraumplanerischen Potenziale unabhängig von der geplanten S-Bahn-Haltestelle «Am Zollweg». Zudem legten die Lösungsversuche zur Verknüpfung der Tramendhaltestelle mit der neuen S-Bahn-Haltestelle auch nahe, das Thema der Tramverlängerung – im Sinne einer Einbindung Lörrachs (DE) ins Baselstädtische Tramnetz, wie etwa in Weil am Rhein (DE) – stärker zu forcieren. Dies öffnete den Horizont, und das Projekt wurde von nun an integral gedacht. Das machte es schlussendlich möglich, weitere wichtige Bausteine zu benennen: zusätzlich zu einer S-Bahn-Haltestelle eine tramkompatible Strassenaufwertung, gekoppelt an einen städtebaulichen Rahmenplan, sowie eine neue Ost- West-Querung. Dieses Vorgehen erwies sich in dem aus vielen gegenseitigen Abhängigkeiten bestehenden Planungsgeflecht als zukunftsfest. Als der S-Bahn- Halt «Am Zollweg» ab 2017 infrage und 2019 mit dem Entscheid für den Neubau eines Zentralklinikums im Lörracher Norden offiziell zurückgestellt wurde, änderten sich im Jahr 2017 die Rahmenbedingungen für den Ausbau der Haltestelleninfrastruktur entlang der S-Bahn-Strecke. Die Priorisierung lag nun auf einer neuen S-Bahn-Haltestelle, die direkt an das Zentralklinikum angeschlossen ist; eine gleichzeitige Schaffung beider neuen S-Bahn-Haltestellen würde aufgrund des somit noch dichteren Haltestellennetzes die Begegnungspunkte im Zugverkehr so verändern, dass der Betrieb nur mit einem hohen Infrastrukturaufwand möglich wäre. Die Verantwortlichen konzentrierten von nun an das Projekt darauf, das von Resträumen geprägte Grenzgebiet zwischen Lörrach und Riehen zusammenzuweben und hochwertige Aufenthalts-, Bewegungs- und Lebensräume zu schaffen. Gleichzeitig soll die Planung und Umsetzung sowohl für eine Tramverlängerung als auch für eine später immer noch mögliche S-Bahn- Haltestelle offengehalten werden.

Strategie – Transformation auf drei Ebenen

Eine binationale Planungsgruppe, koordiniert von der IBA Basel, wahrt die Interessen beider Seiten. Eine offene, auf den drei Projektbausteinen «B», «E» und «Q» basierende Strategie adressiert die räumlichen Defizite auf drei Ebenen:

  • Die autogerecht geplante Ausfallschneise Basler / Lörracher Strasse soll hinsichtlich heutiger Mobilitätsansprüche umgestaltet werden (Baustein B – Umgestaltung Basler Strasse).
  • Die umliegenden Quartiere, charakterisiert durch autotaugliche Frei- und ungenutzte Resträume, sollen dichter werden und näher an die Strasse rücken (Baustein E – Entwicklungsflächen).
  • Die beiden Naherholungsgebiete Tüllinger Berg (DE) und Maienbühl (CH / DE) sollen besser an die Wohnquartiere um den Zoll angebunden werden und Querungsmöglichkeiten für Bahn- und Strassentrassees bieten (Baustein Q – Grün- und Querverbindung).

Zusätzlich werden mit dem Baustein M – Mobilitätsdrehscheibe – und dem Baustein S – Entwicklungsgebiet Stettenfeld / Riehen (CH) – die Aspekte behandelt, mit denen die weitere Planung koordiniert werden muss: Zum einen besteht nach wie vor die Notwendigkeit, die Umsteigeverbindungen zu verbessern und so Zentralität im besser verknüpften Netz zu schaffen. Zum anderen muss das Projekt mit der Entwicklung des in unmittelbarer Grenzlage befindlichen Stettenfeldes abgestimmt werden, das mit 17,5 Hektar das grösste Entwicklungspotenzial der Gemeinde Riehen darstellt.

Verknüpfung über Grenzen, Hinwendung zum öffentlichen Raum, verdichtete und grüne Quartiere

Zur Konkretisierung der Strategie lobten die Projektträger* innen 2019 einen Realisierungswettbewerb aus. Nach dem Motto «Vom Strassenraum zum Lebensraum » schlägt das Siegerprojekt der Arbeitsgemeinschaft Yewo Landscapes (Landschaft), StudioVlayStreeruwitz (Städtebau) und con.sens Verkehrsplanung eine konsequente Hinwendung zum öffentlichen Raum und öffentlichen Verkehr vor. Bis 2023 soll die Basler Strasse, eine ehemalige Bundesstrasse, zur Stadtstrasse werden, die Lörrach und Riehen über die Grenze hinweg verbindet. Die Fahrbahnbreite wird auf das nötige Mass reduziert. Entlang der Strasse entstehen hochwertige Aufenthaltsräume. Resträume werden bebaut, um die Strasse in Zukunft besser zu fassen. Für Fussgänger* innen, Radfahrer*innen sowie Anwohner*innen soll durch diese Massnahmen eine attraktive Verbindung zwischen Lörrach und Riehen entstehen. Ein weiterer Baustein des Projekts ist die städtebauliche Reparatur angrenzender Quartiere. Diese sollen sich stärker zur Basler Strasse hin entwickeln und diese dadurch räumlich besser fassen, anstatt wie derzeit Abstand zur Verkehrsschneise zu halten. Heute freie Quartiersflächen stehen zur Nachverdichtung zur Verfügung sowie zur Errichtung von attraktiven Freiflächen. Sie sollen den Bewohner*innen nicht nur als Naherholungsflächen und Treffpunkte dienen, sondern sind zugleich Versickerungsflächen und mindern eine Überhitzung der Wohngebiete im Sommer. Das auf Schweizer Seite angrenzende Stettenfeld soll sich als nachhaltiges und familienfreundliches Quartier weiterentwickeln. Das Areal birgt grosses Entwicklungspotenzial für Wohnraum, Sport- und Freizeitanlagen sowie Landschaftsraum und soll zusammen mit den Betroffenen und Beteiligten partizipativ erarbeitet werden. Heute behindern die Bahntrasse, die Basler / Lörracher Strasse und der Zollbereich die fussläufigen Aktivitäten der Bewohnerschaft. Um die Quartiere beidseits der Verkehrsschneisen besser zu verbinden, ist im Agglomerationsgprogramm dritter Generation eine neue Querungsmöglichkeit mit einer neuen Bahnunterführung für den Fuss- und Radverkehr geplant. Diese soll in ihrer Verlängerung die Landschaftsräume Tüllinger Berg auf deutscher Seite und Maienbühl auf Schweizer Seite verbinden. Somit werden nicht nur Landschaftsräume grenzüberschreitend verbunden, sondern auch für die Bewohner*innen die Möglichkeit geschaffen, beidseits der Grenzen schnell Naherholungsräume zu erreichen. Auf Quartiersebene verweben die neue grüne Verbindung und der attraktive gemeinsame Zollbereich über die Grenze hinweg die Quartiere auf beiden Seiten. Auch auf Ebene des öffentlichen Nahverkehrs entstehen planmässig neue Verknüpfungen. Heute fussläufig weit auseinanderliegende Endhaltestellen von Tram und Bus sollen über die Grenze besser miteinander verbunden und an bestehende Haltepunkte angebunden werden. Dabei rückt der Bahnhof Stetten als «neue» mögliche «Mobilitätsdrehscheibe» in den Fokus. Im Fall einer Verlängerung der Tramlinie 6 kann diese mit zwei S-Bahn-Linien und dem Bus an einem Ort verknüpft werden, der bereits seit Längerem einer adäquaten Gestaltung als Subzentrum und Knotenpunkt bedarf. Dies ermöglicht nicht nur eine bessere Verknüpfung, sondern auch die Einbindung neuer Verkehrsträger wie Car- und Bikesharing. Die Entwürfe aus dem Realisierungswettbewerb 2019 zeigen diese Qualitäten eindrücklich und halten den notwendigen Platz für die Tramoption frei.

Ein mit der Bevölkerung abgestimmtes Projekt

Das Projekt schafft zudem Verknüpfungen anderer Art. Über das räumliche Zusammenweben hinaus entstanden während des zehnjährigen IBA Prozesses zahlreiche neue Verbindungen zwischen den planenden Akteur*innen beiderseits der Grenze. So arbeitete die Gemeinde Riehen Hand in Hand mit der Stadt Lörrach an der Entwicklung einzelner Projektbausteine. Dies erlaubte ein Kennenlernen der Akteur*innen beidseits der Grenze und somit Austausch und Abstimmung zwischen unterschiedlichen Planungskulturen. Das Aufteilen des Projekts in Bausteine, eingebettet in eine gemeinsame Strategie, erlaubte es, flexibel auf die unterschiedlichen Interessen und Ansprüche der Planungspartner*innen und ihre zeitlichen wie finanziellen Voraussetzungen zu reagieren. Hinsichtlich der Einbindung der Bevölkerung in den Planungsprozess betrat das Projekt Neuland. Die einzelnen Projektbausteine wurden bewusst aufgrund des Feedbacks der Bürger*innen sowie der betroffenen Stakeholder weiterentwickelt, um zu einem breit abgestützten und nachhaltigen Projekt zu gelangen. 2018 analysierte denkstatt sàrl den Grenzraum zwischen Riehen und Lörrach mit seinen unterschiedlichen Alltagswirklichkeiten durch Feldforschung. Ziel der Forschung war es, nebst bereits geplanter städtebaulicher Infrastrukturmassnahmen beider Länder auch die Stimmen, Erinnerungen, Geschichten und Nutzungsweisen des Ortes aufzuzeichnen und in einer «Schatzkarte» festzuhalten. Die Karte visualisiert die lokal-spezifischen Sichtweisen der deutschen und der Schweizer Bevölkerung auf einen Blick und ermöglicht somit eine Diskussion auf Augenhöhe. Wie sich der Raum verändern kann, thematisierte 2019 ein Reallabor: Wenn eine autogerechte Ausfallschneise durch einen roten Container und rosa Bodenbelag verschmälert wird, sind kontroverse Reaktionen vorprogrammiert. Temporäre Installationen regten die Bevölkerung dazu an, über die zukünftige Planung zu diskutieren. Der partizipative Einbezug für langfristige Projekte erwies sich als fruchtbare Strategie. So entstand im Quartier aus einem temporären Begegnungsangebot bei der Tramendhaltestelle auf Schweizer Seite ein neuer Quartierstreffpunkt, getragen von den Anwohner*innen. Bei der Entwicklung der anliegenden Quartiere dürfte Ähnliches geschehen. Auf Lörracher Seite sollen die geplante Nachverdichtung und Freiraumentwicklung zusammen mit den Eigentümer*innen gelingen.

Vision Zollquartier 2040

Das jährlich stattfindende STIMMEN-Festival in Lörrach (DE) beim attraktiv gestalteten Zollbereich hat sich als grenzüberschreitender Treffpunkt für die Bewohner*innen des Zollquartiers etabliert. Die Mieter* innen der von der Wohnbau Lörrach errichteten Überbauungen beim alten Zollhaus können jeweils direkt vom Balkon aus die Konzerte geniessen. Diese Entwicklung wurde durch den partizipativ erarbeiteten grenzüberschreitenden Masterplan entlang der Basler Strasse inklusive Zollübergang Lörrach / Riehen (DE / CH) angestossen. Viele Grundeigentümer* innen haben darauf aufbauend die qualitätsvolle Nachverdichtung im Zollquartier in Angriff genommen, auch das Geviert rund um das Hotel Bijou wurde verdichtet und die fussläufige Verbindung mit dem Bahnhof Dammstrasse verbessert. Ausserdem profitieren sie von der neuen Tramhaltestelle direkt vor der Haustür. Seit fünf Jahren können die Bewohner*innen des Zollquartiers mit der Tram 6 bis ins Zentrum von Lörrach und Basel fahren und die Mobilitätsdrehscheibe beim Bahnhof Stetten (DE) nutzen. Sie verbindet optimal die S-Bahnen S6 sowie S5 mit der Tram 6 und den regionalen Buslinien. Nicht nur die grenzüberschreitende Mobilität wurde verbessert, sondern vor allem wurden die Quartiere Stettenfeld (CH), Stetten-Süd (DE) und Stetten-Neumatt (DE) zu einem attraktiven Grenzraum mit Aufenthaltsqualität und mit neuen Verbindungen für Fussgänger*innen sowie für Radfahrer*innen. Hervorzuheben ist die neue Wegverbindung zwischen Tüllinger Berg und Maienbühl (CH / DE) im Bereich der Landesgrenze, die an Wochenenden stark von Naherholungssuchenden aus nah und fern frequentiert wird und einen berauschenden Ausblick auf die trinationale Region ermöglicht.

Perimeter

Grenzgebiet Lörrach (DE), Riehen (CH), 850 m nördlich sowie 600 m südlich des Grenzübergangs

 

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der IBA Fachpublikation «Gemeinsam Grenzen überschreiten».